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Corona-Impfstoffe: „Zum Fremdschutz haben sich vorwiegend immunologische Dilettanten geäußert“
Vor dem Jahr 2020 wussten viele Menschen nicht, dass Coronaviren existieren. Sie gehören zu jenen Viren, die für die saisonalen Infektionserkrankungen, die sogenannten „grippalen Infekte“ verantwortlich sind. Beschrieben wurden sie erstmals in den 1960er-Jahren von der britischen Virologin June Almeida. Die vier endemischen Coronaviren HCoV-HKU1, HCoV-OC43, HCoV-NL63 und HCoV-229E sind je nach Virensaison für 5 bis 30 Prozent aller akuten respiratorischen Erkrankungen, aber auch viele Todesfälle in Altenheimen verantwortlich. Die meisten von uns infizieren sich in der frühen Kindheit mit Coronaviren und bauen so eine langanhaltende Immunität auf, die durch Re-Infektionen immer wieder gefestigt wird. In der jüngsten Vergangenheit kamen drei weitere Coronaviren hinzu: 2003 SARS-CoV-1, 2012 MERS-CoV und 2019 SARS-CoV-2, von dem es inzwischen viele Varianten und Subvarianten gibt. Eine Infektion mit SARS-CoV-1 bewirkt eine viele Jahre anhaltende Immunität und spätestens Mitte 2021 wusste man, dass dies auch für SARS-CoV-2 gilt. Ein Befund, der inzwischen auch durch Übersichtsarbeiten bestätigt wurde.
Ende 2020 und Anfang 2021 wurden mehrere Corona-Impfstoffe im Eilverfahren zugelassen. So wie die Influenza-Impfung werden auch sie intramuskulär verabreicht. Bei den Zulassungsstudien wurde die Reduktion symptomatischer Ansteckungen gemessen, allerdings nicht, ob Geimpfte auch weniger ansteckend sind. Keine Zulassungsbehörde hat irgendeinem Corona-Impfstoff bescheinigt, dass er das Übertragungsrisiko reduziert. Wie konnte es also dazu kommen, dass bei den Corona-Impfstoffen nicht nur ein fast hundertprozentiger Schutz vor Erkrankung, sondern auch eine effektive Reduktion des Übertragungsrisikos kommuniziert wurde?
Begonnen hat es Mitte Februar 2021, als der damalige SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach ein bis heute unveröffentlichtes Manuskript mit den Worten zitierte: „Diese Auswertungen sind von großer Bedeutung. Sie sind der erste klare Hinweis darauf, dass man sich nach der Impfung nicht ansteckt und auch nicht ansteckend ist.“ Anfang April 2021 stellt das Robert-Koch-Institut (RKI) fest: „Nach gegenwärtigem Kenntnisstand ist das Risiko einer Virusübertragung durch Personen, die vollständig geimpft wurden, spätestens zum Zeitpunkt ab dem 15. Tag nach Gabe der zweiten Impfdosis geringer als bei Vorliegen eines negativen Antigenschnelltests bei symptomlosen infizierten Personen.“ Zeitgleich kann man in vielen anderen Medien lesen: „Laut RKI können Geimpfte das Virus kaum weitergeben“, mit der Konsequenz: „Wer vollständig geimpft wurde, kann in Zukunft wie jemand behandelt werden, der negativ getestet wurde.“
Diese Aussagen basieren auf Studien mit ein oder zweimal geimpften Probanden und Beobachtungszeiträumen von wenigen Wochen. Trotzdem war die Botschaft in der Welt: „Geimpfte sind nicht ansteckend!“, als ob das eine dauerhafte Eigenschaft wäre. Es war die Grundlage für Impfzertifikate („Grüner Pass“), 2G, Betretungsverbote, Arbeitsverbote, Ausbildungsverbote, sozialen Ausschluss, Impfpflichtdebatten, Impfkampagnen in Schulen, für sozialen Druck auf gesunde junge Menschen sich impfen zu lassen, auch wenn sie bereits eine Infektion überstanden hatten. Aber auch für mediale Beschimpfungen, wie „Ungeimpfte sind die Treiber der Pandemie“ oder „Pandemie der Ungeimpften.“ Dies hatte viele unerwünschte Effekte, Vertrauensverlust in Politik, Wissenschaft und Medien, aber auch negative Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhalt und letztendlich die demokratische Gesellschaft. Sie offenbarten ein paternalistisches Verhältnis vieler Politiker zu den Bürgern und eine mangelhafte Kommunikation mit der Immunologie, der Wissenschaft von unserer Reaktion auf Infektionen.
Aus immunologischer Sicht wäre ein dauerhafter Fremdschutz ungewöhnlich. Wird das Immunsystem durch eine Infektion oder Impfung aktiviert, entstehen aus „naiven“ Immunzellen, den B und T Lymphozyten, in den Lymphknoten „Gedächtnis“-Lymphozyten, aus den „Gedächtnis“-B Lymphozyten dann auch „Plasmazellen“, die die spezifischen Antikörper dauerhaft ins Blut abgeben. Bei einer Reizung der Schleimhäute der Atemwege werden die Antikörper aus dem Blut auch durch die begrenzende Epithelzellenschicht auf die Schleimhäute transportiert. Antikörper, die die Bindung der Viren an die Schleimhautzellen blockieren, auch „neutralisierende“ Antikörper genannt, schützen uns vor Ansteckung und sie schützen uns auch davor, andere anzustecken. Leider lässt dieser Schutz schnell nach, da die Transportmechanismen wieder abgeschaltet werden. Man kann den Fremdschutz leider auch nicht durch wiederholte Impfungen (Boostern) stabilisieren, eine Fehleinschätzung vieler Verantwortlicher in der Pandemie. Denn je häufiger man impft oder sich infiziert, desto mehr Antikörper hat man im Blut. Diese blockieren nachfolgende Immunreaktionen. Die Folge: Schwache Immunreaktion, schwache Aktivierung des Transports auf die Schleimhäute, geringer und kurzfristiger Fremdschutz.
Die ungeschwärzten RKI-Protokolle zeigen, dass auch die Mitarbeiter des Instituts sehr lange an eine effiziente und dauerhafte Reduktion des Übertragungsrisikos geglaubt haben. So steht erst im Protokoll vom 29. Oktober 2021: „FAQ zum Übertragungsrisiko durch Geimpfte muss geändert werden. Bisher sinngemäß, dass es aus PH- (Anm.: Public Health) Sicht vernachlässigbar sei.“ Ende 2021 änderte sich auch die Berichterstattung in den Medien. Plötzlich konnte man immer öfter lesen, dass auch Geimpfte ansteckend seien. Die „Faktenfinder“ der Tagesschau behaupteten aber weiterhin, dass ein Fremdschutz und die Möglichkeit einer Herdenimmunität durch die Impfung immer gegeben war und erst die Omikron-Variante dazu geführt habe, dass der „Fremdschutz einer Impfung mittlerweile zu vernachlässigen“ sei. Hier wurden ein paar „immunologische“ Fakten zur Schleimhautimmunität nicht wahrgenommen. Schließlich meinte auch der Immunologe Carsten Watzl, dass man den Fremdschutz durch die Impfung zu sehr in den Vordergrund gestellt habe. Denn dieser sei immer nur vorübergehend. „Impfungen sollen gar nicht so sehr vor der Ansteckung schützen, sondern vor der schweren Erkrankung.“ Das hätte deutlicher kommuniziert werden sollen. Dem ist nichts hinzuzufügen.
So hat sich das Narrativ, dass Geimpfte nicht mehr ansteckend und nur die Ungeimpften für die Pandemie verantwortlich seien, tief in der Bevölkerung verankert. Es hat Familien und Freundschaften gespalten und es kam zu einer beispiellosen Hetze und Diskriminierung von ungeimpften Personen. In Österreich hat der Glaube an den Fremdschutz zu einer der autoritärsten Maßnahmen seit Bestehen der zweiten Republik geführt. Zwischen dem 14. November 2021 und dem 31. Jänner 2022 wurden im sogenannten „Lockdown für Ungeimpfte“ fast zwei Millionen Menschen ab dem 12. Lebensjahr vom sozialen Leben ausgeschlossen, da sie die 2G-Regel nicht erfüllten. Der private Wohnbereich durfte nur in Ausnahmefällen verlassen werden. Betroffen waren auch viele einfach geimpfte und genesene Personen, bei denen die willkürlich festgelegte Gültigkeit des Impfzertifikats abgelaufen war, oder deren Infektion im epidemiologischen Meldesystem nicht erfasst worden war. Die gesellschaftlichen Irritationen dieser Politik wirken in der Gesellschaft bis heute nach. Man muss sich wundern, wie viel Zustimmung es damals aus der Wissenschaft, aber auch von Verfassungsgerichten und Ethikkommissionen zu dieser Maßnahme gab. Auch in Deutschland hielt Robert Habeck, Bundesvorsitzender vom Bündnis 90/Die Grünen, einen Lockdown für Ungeimpfte „für unumgänglich“.
Zum Thema Fremdschutz durch Impfungen haben sich in der Öffentlichkeit vorwiegend immunologische Dilettanten geäußert, echte Expertise kam kaum zu Wort. Es brauchte lange, bis die relevanten wissenschaftlichen Veröffentlichungen außerhalb des Fachgebietes zur Kenntnis genommen wurden. Hier ging wohl oft Emotion über Evidenz. In den Medien sowieso, aber auch im Verfassungsgerichtshof, oder im Ethikrat, der seinerzeit eine allgemeine Impfpflicht empfahl, ohne dass irgendein Mitglied über immunologische Expertise verfügte. Auch Mitglieder der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina forderten Ende November 2021 eine „strikte, kontrollierte und sanktionierte 2G-Regelung“. In Österreich wurde eine allgemeine Impfpflicht Anfang Februar 2022 im Parlament beschlossen. Das war ein politischer Fehler, der viel Vertrauen in Politik, Behörden, Wissenschaft und Impfungen zerstört hat.
Dr. med. Martin Sprenger MPH ist Arzt und Public Health Experte und leitet seit 2010 den Universitätslehrgang Public Health an der Medizinischen Universität Graz. Im März 2020 war er Mitglied der Corona-Taskforce des österreichischen Gesundheitsministeriums.